B. Degen u.a. (Hrsg.): Zimmerwald und Kiental

Cover
Titel
Zimmerwald und Kiental. Weltgeschichte auf dem Dorfe


Herausgeber
Degen, Bernard; Julia, Richers
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
279 S.
Preis
URL
von
Christoph Zürcher

Nein, Weltgeschichte wurde weder in Zimmerwald noch in Kiental geschrieben. Hingegen war die Vermarktung der hier zu besprechenden Publikation bemerkenswert. Die Tagespresse erhob einmütig die beiden idyllischen Dörfer zu Schauplätzen der Weltgeschichte, sogar die NZZ titelte am 5.9.2016: «Im Berner Bauerndorf Zimmerwald schreibt eine Schar von Sozialisten vor hundert Jahren Weltgeschichte». Der NZZ-Besprechungstext hält sich eng an die Reklamevorgaben des Chronos-Verlages (was das Rezensieren doch etwas vereinfacht). Auch Unipress (Nr. 165, Oktober 2015, S. 28 / 29) beteiligte sich aktiv an der Vermarktung und lieferte der kritiklosen Tagespresse einige dankbar aufgenommene Schlagworte: «… die wohl berühmteste Friedenskonferenz während des Ersten Weltkrieges …», «Das Manifest von Zimmerwald fand damals ein enormes Echo», «Man kann zu Recht sagen, dass die Zimmerwalder Konferenz welthistorische Auswirkungen hatte», «In Zimmerwald befand sich der Urquell Lenins revolutionärer Bürgerkriegsideen …», alles Behauptungen, die einer genaueren Prüfung nicht standhalten. Sogar die Osteuropa-Bibliothek sprang auf den Lenin-Hype auf. Sie kündigte ihre Rahmenveranstaltung zum Lenin-Zimmerwald-Jubiläum mit den Worten an: «1915 schaute die Welt auf Zimmerwald, wo sich die internationale sozialistische Elite unter dem Banner der Friedenskonferenz zusammenfand.» Es muss aber für die Welt recht schwierig gewesen sein, nach Zimmerwald zu schauen, denn das Ereignis spielte sich bekanntlich in klandestin-konspirativer Diskretion ab. Zeitgenossen scheinen allerdings das Geschehen nicht unbedingt als weltgeschichtlich relevant eingestuft zu haben, so etwa der bekannte linke Sozialist, Kommunist und Anarchist Fritz Brupbacher in seiner Selbstbiografie: «Las die Resolutionen der Internationalen Frauenkonferenz in Bern im März 1915, die Deklarationen der schweizerischen Jugendorganisation und auch die Manifeste der Zimmerwalder im September 1915 ohne grosse Auf- und Anregung. Gott, wie viel Resolutionen hatte man nicht schon gelesen, und noch viel schärfere. Zudem war es ja gar nicht gefährlich in der Schweiz, solche Resolutionen loszulassen, solange sie nicht gegen die eigenen Behörden gingen.»

Nach diesen einleitenden Bemerkungen ist festzustellen, dass die Lektüre der Publikation durchaus interessante Aspekte zutage fördert. Der Band enthält zehn Beiträge der beiden Herausgebenden Bernhard Degen und Julia Richers, dazu vier Beiträge von Markus Bürgi, Daniel Marc Segesser und Adrian Zimmermann. Abgehandelt wird die Rolle der zwei Bauerndörfer Zimmerwald und Kiental in der Weltgeschichte (Degen/ Richers), das Verhältnis der zweiten Internationale zum Krieg (Bürgi), die internationale Situation 1914 (Degen), die globale Dimension des Ersten Weltkrieges (Segesser), das Treiben von osteuropäischen Revolutionären und Revolutionärinnen in der Schweiz sowie die Rolle Berns als Zentrum von Geheimdiplomatie, Spionage und Konferenzen (Richers), die Vorgänge um die Konferenzen von Zimmerwald und Kiental (Degen) und die Haltung der «nördlichen» Sozialisten in der Friedensfrage (Zimmermann). Der letztgenannte Beitrag verdient besondere Aufmerksamkeit, beleuchtet er doch eine bisher wenig bekannte Facette der Geschichte des internationalen Sozialismus. Das Internationale Sozialistische Büro (ISB) tagte letztmals Ende Juli 1914 an seinem Sitz in Brüssel. Nach dem deutschen Angriff auf das neutrale Belgien dislozierte es nach Den Haag und versuchte von dort aus, mit Unterstützung der niederländischen und der skandinavischen Parteien den Dialog zwischen den Sozialisten der Mittelmächte und denen der Entente wieder in Gang zu bringen, was sich als unmöglich erwies. Unterdessen organisierte eine «Südgruppe» um den Partito Socialista Italiano und die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SPS) eine Konferenz in Lugano (September 1914), woraus sich der Kern der Zimmerwalder Gruppe herausbildete. Zwischen diesen beiden Gruppen kam es bis Kriegsende nie zu einem Einvernehmen, sondern zu zunehmender Konkurrenz. Verdankenswert sind die Biografien einiger Protagonisten dieser «nördlichen» Szene (Huysmans, Troelstra, Stauning, Branting). Schade, dass einige andere fehlen (etwa Henri van Kol, Johann Albarda, Friedrich Adler, Frederik Borgbjerg, Louis de Brouckère), deren Biografien durchaus auch von Interesse wären.

Die 38 Teilnehmer der Zimmerwalder Konferenz verabschiedeten am 8. September eine Resolution, die nachmals als «Zimmerwalder Manifest» bekannt wurde. Man forderte einen Frieden ohne Annexionen (wie ihn später der amerikanische Präsident Wilson auch forderte), ohne allerdings konkrete Friedensmassnahmen vorzuschlagen. Man eruierte die Ursachen des Krieges im Kapitalismus und Imperialismus und verurteilte die Mehrheitssozialisten als Sozialpatrioten und Sozialimperialisten, weil sie sich 1914 auf die Seite ihrer Regierungen gestellt und die Kriegskredite gebilligt hatten. Eine Gruppe um Lenin, nachmals «Zimmerwalder Linke» genannt, distanzierte sich von der Resolution, weil sie als Ziel des sozialistischen Kampfes keineswegs den Frieden anvisierte, sondern die Überführung des imperialistischen Krieges in einen internationalen revolutionären Bürgerkrieg. Ein Friedensaktivist war Lenin nicht.

Das Medienecho, das die Resolution fand, war, wie Bernhard Degen im Beitrag Von Zimmerwald bis Kiental nachweist, sehr gering. Sie wurde praktisch nur von der sozialistischen Presse verbreitet, zuerst am 18.9.1915 in der Tagwacht, einen Tag später, am 19.9.1915, im italienischen Avanti, dort bereits zensiert. In Frankreich arbeitete die Zensur zusammen mit den Mehrheitssozialisten an der Unterdrückung des Manifests. Es blieb bei 20 000 Flugblättern und einigen kleineren Publikationen. Am 12. November brachte die Humanité Ausschnitte aus dem Manifest. Diskutiert wurde es ausschliesslich innerhalb der sozialistischen Parteien in deren zahlreichen Periodika. Die Internationale Sozialistische Kommission (ISK) bemühte sich um Koordinierung der propagandistischen Aktivitäten in ganz Europa. Bis im April 1916 konnte sie für Drucksachen CHF 2950.50 ausgeben. Das Geld stammte vor allem aus Spenden von sozialistischen Organisationen.

Interessant ist die Geschichte der Verknüpfung von Lenins Biografie mit Zimmerwald. Nach Julia Richers (Unipress Nr. 165, Oktober 2015, S. 28) soll das Manifest von Zimmerwald damals ein enormes Echo gefunden haben. «Nach einigen Tagen erklang der bis dahin unbekannte Name Zimmerwald in der ganzen Welt», zitiert Richers Trotzki, leider ohne Quellenangabe. Tatsächlich erschienen schon 1925 in der Sowjetunion mehrere Jubiläumspublikationen, und 1929 wurde Zimmerwald als sowjetischer Erinnerungsort in der «Grossen Sowjetenzyklopädie» fest verankert. Kurz darauf begann allerdings bereits die Ausradierung der prominenten Namen der Zimmerwalder Linken aus der Erinnerung, weil die Träger dieser Namen nach dem Abgang Trotzkis 1927 von Stalin zu personae non gratae erklärt und später fast alle ermordet wurden. Eine Aufwertung erfuhr «Zimmerwald» durch Chruschtschow und seine «Entstalinisierungsrede » am XX. Parteitag der KPdSU 1956. Das sowjetische Geschichtsverständnis wurde sozusagen von der Altlast Stalin befreit, der Personenkult konzentrierte sich fortan auf Lenin. Der Mythos Zimmerwald wurde mehr und mehr zu einem Ausgangspunkt des sowjetischen Selbstverständnisses, gewissermassen zum Rütli des Sowjetstaates. Auf die nun einsetzende Publizität und die vielen Anfragen aus der UdSSR reagierte die Gemeinde Zimmerwald abwehrend. So bleibt die Ironie, dass Lenin nach dem endgültigen Scheitern seines Konstrukts aus Utopie und Terror (Dimitiri Wolkoganow) eine Rolle in der Tourismusförderung des Regionalen Naturparks Gantrisch zugewiesen erhält.

Eingestreut in die grösseren Aufsätze sind kleinere Artikel: zur Berner Tagwacht, zur Schweiz im Ersten Weltkrieg, zum Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund, zum Volkshaus Bern, zur Gemeinde Zimmerwald, zu den Tagungslokalitäten und Zimmerlisten in Zimmerwald, zur Bäuert Kiental und zum sozialistischen Promachos-Verlag in Belp. Sie lockern auf und bringen das Lokalkolorit auf dem weltgeschichtlichen Hintergrund zur Geltung.

Wichtiger Bestandteil sind die 43 Biografien von Akteurinnen und Akteuren des Geschehens. Leider fehlen bei den Biografien jegliche Quellenangaben. Die Lenin-Biografie von Bernhard Degen erscheint deutlich geschönt, indem sie mit dem Novemberputsch von 1917 endet und Lenins Staatsterror ausspart. Geschönt ist ebenfalls die Biografie von Carl Moor, während Ernst Nobs, ebenfalls bei Bernhard Degen, als erster SP-Bundesrat vergleichsweise schlecht wegkommt. Er sei zunehmend nach rechts gerückt und «dies ermöglichte dem kleinbürgerlich lebenden, immer netten und korrekt gekleideten Politiker eine glänzende Karriere» (S. 137). Robert Grimm wird dieser echt leninistische Renegaten-Vorwurf erspart, obwohl er seine Karriere als bernischer Regierungsrat abschloss. Der Band wird abgerundet mit einer Sammlung von 19 der bekannteren Quellentexte zur Geschichte des internationalen Sozialismus zwischen 1907 und 1919. Hübsch als Gegenüberstellung sind die Quellen Nr. 20, das Programm der antikommunistischen Zimmerwald-Konferenz von 1965, und Nr. 21, das der Lenin- Zimmerwald-Gedenkveranstaltungen von 2015.

Hinsichtlich Lenins Aufenthalt und Wirken in der Schweiz bleibt der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn aus der Publikation bescheiden. Das Wesentliche dazu hat Willi Gautschi bereits 1973 fundiert dargestellt. Man darf gespannt sein, was das russische Revolutionsjubiläum von 2017 an Festivitäten und Publikationen bringen wird. Wird es in der Russischen Föderation (und anderswo) zu einem Revival des Personenkultes um Lenin kommen?

Zitierweise:
Christoph Zürcher: Rezension zu: Degen, Bernhard; Richers, Julia (Hrsg.): Zimmerwald und Kiental. Weltgeschichte auf dem Dorfe. Zürich: Chronos 2015. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 79 Nr. 1, 2017, S. 42-45.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 79 Nr. 1, 2017, S. 42-45.

Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit